Samstag, 28. Juli 2007

Eine fremde, nahe Welt

Seit den gescheiterten Anschlägen von London und Glasgow geht in der britischen Hauptstadt wieder die Angst vor dem Terrorismus um. Die muslimische Community, die sich immer stärker in die Moscheen und die eigenen Viertel zurückzieht, bekommt das Misstrauen der Öffentlichkeit mehr und mehr zu spüren. Raphael Geiger hat die „East London Mosque“ im größten muslimischen Viertel Großbritanniens besucht.

Ismail weiß es als erster. „Das ist Sure 29!", schreit er. Über seiner islamischen Kleidung aus einem langen weißen Rock und einer Weste hat er ein Timberland-Shirt gestreift, das Einzige an dem Jungen mit der muslimischen Kappe über seinem Kurzhaarschnitt, das auf seine westliche Herkunft hindeutet. Jetzt sitzt der 14-jährige in der Schule. Sein Lehrer hat die zwölfköpfige Klasse in zwei Teams unterteilt und spricht den Schülern Auszüge aus Koransuren vor. Am Ende gewinnt das Team, das die meisten Sätze Suren zuordnen kann. Die Kinder sind voll bei der Sache, starren auf den Mund des Lehrers, wippen mit den Füßen, ballen die Hände zu Fäusten. Am Ende gewinnt Ismails Team – er strahlt.

Es ist sechs Uhr im Keller der East London Mosque. An die 50 Schüler zwischen sieben und 14 sitzen, eingeteilt in vier Altersgruppen auf dem hellgrün-rot gemustertem Teppichboden eines niederen Raums. Vor ihnen am Boden stehen kleine Holzhalterungen, worin die Schüler ihre Koranbücher legen. Die Luft ist schlecht, das Licht grell, an der Wand stehen Baugeräte, das Gebäude wird gerade renoviert. Denn die Schule platzt aus allen Nähten – immer mehr Eltern melden ihre Kinder hier an. So muss jeder erdenkliche Raum des Moschee-Gebäudes genutzt werden.

In der Schule in der Ost-Londoner Moschee lernen tagsüber Schüler den normalen Stoff einer englischen Secondary School mit einem islamischen Religionsunterricht, abends kommen Kinder von staatlichen Schulen, wo keine Islamklasse stattfindet, um hier von fünf bis sieben Uhr „den Koran zu studieren", wie Ismail sagt. Während seine Altergenossen zu Hause fernsehen, lernt er Koransuren. Ob er denn lieber auf der Couch liegen würde? „Nein, das ist ja langweilig. Hier bin ich mit Freunden zusammen, habe Unterhaltung." Manchmal sei es schon stressig: Raus aus der eigentlichen Schule, umziehen, und gleich weiter zum Koranlernen.

Schon allein dafür werden in diesen Tagen viele britische Muslime verdächtigt – für die Ausübung ihrer Religion. Die missglückten Anschläge in London und in Glasgow haben die Briten und speziell die Londoner in eine Situation der Nervosität gebracht, in der nicht Verstand regiert, sondern das Unterbewusstsein – Fernsehbilder, Zeitungsschlagzeilen. So wird jeder Muslim in der U-Bahn zum vermeintlichen Attentäter.

In der Ost-Londoner Moschee, Zentrum der größten muslimischen Gemeinde im Königreich, macht man sich darüber Sorgen. Ismails Lehrer, Mohammed, passt genau in das Muster der Vorurteile: Arabisch aussehend, Mitte Zwanzig, mit Kappe auf dem Kopf. Oft, sagt er, werde er misstrauisch beäugt, wenn er in einen Bus oder in die Tube steige. Der mittelgroße, schmächtige Mann rückt sich seine Modebrille zurecht. „Viele Leute sehen mich nur noch unter dem Prädikat ‚Potenzieller Terrorist'".

Dabei, sagt Mohammed, sei er hier aufgewachsen, habe in dieser Moschee den Koran gelernt und damit vor allem: friedlich zu sein. Niemals gehe Gefahr von ihm aus. „Ich bin ein Bürger wie alle anderen auch, arbeite und zahle meine Steuern. Plötzlich werde ich zum potenziellen Mörder." Dabei, sagt er, sei „jeder Besoffene auf der Straße ein größeres Risiko für die Allgemeinheit."

Die Umgebung der Moschee ist von derer einer in Arabien kaum zu unterscheiden. An der Hauptstraße, die von Central London aus Richtung Osten führt, stehen Häuser, an denen der Putz abbröckelt, der Asphalt auf den Gehsteigen ist löchrig. Eine düstere Gegend, und doch nur einige Meilen weg vom unendlichen Glamour auf den Partys der Reichen.

Hier werden Nicht-Muslime zur Minderheit. Fuhren nicht rote Doppeldeckerbusse durch die Straße, gebe es wenige Indizien, sich in London, und nicht in Kairo zu befinden. Die Identifikation mit der muslimischen Gemeinde ist hoch, man muss sich nicht dafür rechtfertigen, wenn man zum Gebet in die Moschee geht. So erklärt sich auch das Interesse der Eltern, ihre Kinder in den freiwilligen Koranunterricht zu schicken: In Kensington oder Chelsea ist das gleichbedeutend mit einem Bruch der Freundschaft mit christlichen Engländern. Hier, im Londoner Osten, ist das anders.

Ob die Gegend auch Nährboden für den Nachwuchs der Terroristen sei? In der East London Mosque wehrt man ab, man wolle damit nichts zu tun haben. Hier werde der eigentliche, der friedliche, Islam gelehrt, Gewalt werde durchwegs abgelehnt. Alle Leute, die hierher kommen, sind friedliche Menschen? „Alle", sagt Mohammed, „alle, die ich kenne."

Warum sich junge Muslime trotzdem immer wieder zur Gewalt entschließen, dafür hat man hier eine einfache Erklärung: „Sie sehen doch", meint Koranlehrer Mohammed, „was passiert – in Afghanistan, im Irak. Sie merken, dass sie, wenngleich hier geboren, keine vollwertigen Briten sind, merken, wie Rassismus in den Köpfen noch immer existiert." Das beginne bei der Arbeitssuche, die mit anderer Hautfarbe deutlich schwerer falle. „Dann müssen sie im Grunde nur noch mit den falschen Leuten in Kontakt kommen, die sie für sich vereinnahmen und sie schließlich abschotten vom Rest der Gesellschaft." Umso wichtiger sei es, betont er, dass die Leute hier in die Moschee zum Beten kämen, und merkten, dass der Islam und Gewalt zwei verschiedene Dinge seien.

Tatsächlich kommen viele. Das Abendgebet Asr beginnt um viertel nach sieben, da hat Ismail gerade Schulschluss. Zusammen mit einigen anderen und Mohammed eilen sie in die Haupthalle, streifen schnell ihre Schuhe ab, und ordnen sich ein in die Reihen der Gläubigen, die bis zum Ausgang sämtlichen Raum in Anspruch nehmen. Ismail sagt: „Natürlich könnte ich auch zu Hause beten, aber hier gefällt es mir besser. Ich mag die Atmosphäre."

Nach fünfmaligen Niederknien, Hinwerfen und wieder Aufstehen, bei denen der Imam jedes Mal "Allahu Akbar (Allah ist groß)", ruft, geht für den 14-jährigen ein langer Tag zu Ende. Bevor er endlich abschalten kann, stehen noch Hausaufgaben an – für seine staatliche Schule. „Der Koranlehrer gibt uns nie welche."

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