Sonntag, 9. September 2007

Der, der die Tube rockt

Wenn die Londoner U-Bahn - die „Tube“ - kocht, dann hat Dan Beaulaurier sein Ziel erreicht. Was er dazu braucht: Gitarre, Mikro – und eine Lizenz zum Spielen, denn in London sorgt eine eigene Auswahljury für die Qualität der U-Bahn-Musik.


In Deutschland würde man Dan Beaulaurier vielleicht einen Straßenmusiker nennen. So wie die vielen anderen, die sich mit Gitarre oder Akkordeon und meistens mit ihrer Stimme in U-Bahnhöfe stellen und Musik machen. Damit, hoffen sie zumindest, ersingen oder erspielen sie sich ein paar Euros ein. Und oft, ja zu oft, stimmt das Klischee: Neben der abgewetzten Mütze mit ein paar wenigen Münzen drin stehen ein paar mehr gesoffene Bierdosen. Dementsprechend ist meist auch die Qualität der Musik.

Dan (30) steht da an einem Freitagabend im Sommer in der Tube-Station Tottenham Court Road, das ist am östlichen Ende der Oxford Street, Londons Haupt- und Europas größte Einkaufsmeile. Die Station ist überfüllt, die Leute drängeln.

Es ist eine alte Station, nicht so modern und großzügig wie die Neuen an der Jubilee Line, an der sich ab Westminster ein architektonisches Meisterwerk ans nächste reiht. Hier in der Tottenham Court Road Station hängen Kabel an der Decke und von den Wänden bröckelt der Putz ab. Es ist heiß, stickig, die Leute haben im Grunde zwei Ziele: Entweder ins Pub oder nach Hause, beides am besten möglichst schnell. Einige tragen Smoking und Fliege, andere billige T-Shirts mit Symbolen und Bierflecken drauf.

Nicht unbedingt bestes Pflaster für einen Musiker, der sein Hobby zu Geld machen will. Die Menschen strömen an Dan vorbei, die meisten wollen ihn nicht bemerken. So schlägt er unbemerkt in der Ecke seine Akkorde an, meistens Dur-Akkorde, denn Dan ist kein Kind von Traurigkeit. Seine Musik will nicht zum Nachdenken anregen, sondern zum Mitsingen, Mittanzen, will Stimmung erzeugen.

Was vielleicht auch daran liegt, dass Dan kein Londoner Vorortkid ist, sondern Amerikaner, genauer: Kalifornier. Deshalb spielt er auch eine Art Country-Musik, trägt neben Bluejeans abgewetztes Hemd und Cowboy-Hut. Seine schulterlangen, schwarzen Haare hängen ungezwungen in sein verschmitztes Grinsen hinein, das er, solange er eine Gitarre in der Hand hält, nicht mehr von seinem Gesicht lässt. „I just feel comfortable with a guitar in my hands“, sagt er.

Es war ein langer Weg, bis Dan seine Gitarre auch in der Tube in den Händen halten durfte. Denn anders als in Deutschland kann sich in London nicht jeder einfach in die U-Bahn stellen und auf seiner Gitarre klimpern. Es gibt ein penibles System der U-Bahn-Verwaltung, wer in den Schächten im Untergrund pfeifen, singen, rocken darf – und wer nicht. Vor einer vierköpfigen Jury musste Dan vorspielen, unzählige Formulare ausfüllen, bis er schließlich die Lizenz zum Busking in der Tube hatte. Busking heißt übersetzt soviel wie Musikmachen auf öffentlichen Plätzen.

So schwierig das System ist, so gut funktioniert es. Seitdem es existiert, steht in London kein Betrunkener mehr in der U-Bahn und spielt Mundharmonika. Professionalität, die man in deutschen Großstädten bei Straßenmusikern selten findet, ist in der britischen Hauptstadt selbstverständlich geworden. Wer nicht gut genug ist, wird nicht in die Tube gelassen. „No busking“ steht überall in den Gängen, gemeint ist: Ohne Lizenz.

Wer es schließlich als Musiker in die U-Bahn schafft, hat meist schon in einer Band gespielt, steht manchmal bei einer Plattenfirma unter Vertrag oder hat zumindest schon mal eine CD herausgebracht. Auch Dan spielt seit Jahren in seiner eigenen Band, die er zusammen mit einem anderen Kalifornier in London gegründet hat. An die sechs Gigs pro Monat spielt die Gruppe „Norton Money“, meint Dan, meist in Pubs, Clubs, zu privaten Anlässen. „So, that’s what“, überlegt er und rechnet im Kopf: „72 gigs a year?“ Yeah right.

Von Anfang an wollten Dan und sein Kumpel anders sein als all die anderen, die doch nur die großen, bekannten Bands nachahmten. „Norton Money“ will nicht trendy sein, will nicht Plattenproduzenten gefallen. Fragt man Dan nach den Zielen seiner Musik, sagt er knapp: „Oh, make people dance and be happy.“

Sonntag-Abend im „The Boogaloo“ im Bezirk Upper Holloway in Nord-London. Es ist halb sieben, als Dan mit Cowboy-Hut und Gitarre in das Pub kommt, wo er mit seiner Band heute Abend spielt. Die Nachteile der Ungepasstheit, derer sie sich rühmen, sind offensichtlich: Sein Kollege Jeremy ist schon da, doch einen Backstage-Bereich gibt es genauso wenig wie Personal, das wenigstens die Bühne freiräumen könnte. Und so ist Jeremy erstmal damit beschäftigt, die Bühne in einen konzertfähigen Zustand zu bringen. Die Bühne besteht aus einer leicht erhöhten Raumecke, der schwarze Parkettboden ist klebrig. Egal, heute haben sie hier einen Gig und den werden anständig über die Bühne bringen.

Dan sagt: „Nothing to worry about, wir spielen die Musik, die uns gefällt und wenn Leute sie mögen, ist das viel besser als bei den meisten bekannten Bands, bei denen man genau erkennen kann, wen sie zu imitieren versuchen.“

Vor einer knappen Stunde noch stand er allein, ohne Band, nur mit Gitarre und Stimme, in der Tube-Station Leicester Square, in der runden Halle am unteren Ende der großen Rolltreppe, wo sich die Gänge zu Northern und Piccadilly Line treffen. Das Publikum war hier anders als am Freitag-Abend, anders als im „Boogaloo“, wo die meisten Leute irgendwas Ausgeflipptes an sich haben – seien es Klamotten oder ihre Frisur – und ziemlich genau drei Dinge wollen: Bier und Musik und Ruhe von der Welt da draußen. Die beginnt für sie am Montagmorgen noch früh genug.

Hier in der Tube am Sonntag-Nachmittag dagegen sind viele Sparziergänger, die in die Londoner Parks wollen, andere sind auf dem Weg zum shoppen in den großen Kaufhäusern, die auch sonntags geöffnet haben: Selfridges, Harrods, Harvey Nichols.

Dan spielt hier seinen Song „Bye Bye Baby“, ein anfangs etwas lethargischer Song, der gegen Ende immer lauter, schneller und kraftvoller wird. Und Dan spielt den Song lange, vor allem den eigentlichen Schluss schiebt er vor sich her. Er wippt heftig mit seinen Füßen, schmeißt seinen Kopf im Rhythmus auf und nieder, brüllt in sein Mikro, spielt die Gitarre so heiß wie es nur irgendwie geht. Am Schluss scheint in der Tube-Station fast die niedere, vielleicht nur drei Meter hohe, Decke zu beben, und mit ihr die Shopper mit den Harrods-Tüten.

Mit der Zeit sammeln sich immer mehr Pennys und Pounds auf seinem blauen, samtenen Tuch in der Gitarrentasche. Dan gibt ganz offen zu: „Geld ist der eigentliche Grund, warum ich mich hier fünf Tage die Woche bis zu vier Stunden hinstelle. Es ist mein Job, solange ich nicht von den Gigs leben kann.“ Wie viel er verdient, will er nicht verraten. So gut wie er spielt, dürfte es nicht wenig sein.


Samstag, 28. Juli 2007

Eine fremde, nahe Welt

Seit den gescheiterten Anschlägen von London und Glasgow geht in der britischen Hauptstadt wieder die Angst vor dem Terrorismus um. Die muslimische Community, die sich immer stärker in die Moscheen und die eigenen Viertel zurückzieht, bekommt das Misstrauen der Öffentlichkeit mehr und mehr zu spüren. Raphael Geiger hat die „East London Mosque“ im größten muslimischen Viertel Großbritanniens besucht.

Ismail weiß es als erster. „Das ist Sure 29!", schreit er. Über seiner islamischen Kleidung aus einem langen weißen Rock und einer Weste hat er ein Timberland-Shirt gestreift, das Einzige an dem Jungen mit der muslimischen Kappe über seinem Kurzhaarschnitt, das auf seine westliche Herkunft hindeutet. Jetzt sitzt der 14-jährige in der Schule. Sein Lehrer hat die zwölfköpfige Klasse in zwei Teams unterteilt und spricht den Schülern Auszüge aus Koransuren vor. Am Ende gewinnt das Team, das die meisten Sätze Suren zuordnen kann. Die Kinder sind voll bei der Sache, starren auf den Mund des Lehrers, wippen mit den Füßen, ballen die Hände zu Fäusten. Am Ende gewinnt Ismails Team – er strahlt.

Es ist sechs Uhr im Keller der East London Mosque. An die 50 Schüler zwischen sieben und 14 sitzen, eingeteilt in vier Altersgruppen auf dem hellgrün-rot gemustertem Teppichboden eines niederen Raums. Vor ihnen am Boden stehen kleine Holzhalterungen, worin die Schüler ihre Koranbücher legen. Die Luft ist schlecht, das Licht grell, an der Wand stehen Baugeräte, das Gebäude wird gerade renoviert. Denn die Schule platzt aus allen Nähten – immer mehr Eltern melden ihre Kinder hier an. So muss jeder erdenkliche Raum des Moschee-Gebäudes genutzt werden.

In der Schule in der Ost-Londoner Moschee lernen tagsüber Schüler den normalen Stoff einer englischen Secondary School mit einem islamischen Religionsunterricht, abends kommen Kinder von staatlichen Schulen, wo keine Islamklasse stattfindet, um hier von fünf bis sieben Uhr „den Koran zu studieren", wie Ismail sagt. Während seine Altergenossen zu Hause fernsehen, lernt er Koransuren. Ob er denn lieber auf der Couch liegen würde? „Nein, das ist ja langweilig. Hier bin ich mit Freunden zusammen, habe Unterhaltung." Manchmal sei es schon stressig: Raus aus der eigentlichen Schule, umziehen, und gleich weiter zum Koranlernen.

Schon allein dafür werden in diesen Tagen viele britische Muslime verdächtigt – für die Ausübung ihrer Religion. Die missglückten Anschläge in London und in Glasgow haben die Briten und speziell die Londoner in eine Situation der Nervosität gebracht, in der nicht Verstand regiert, sondern das Unterbewusstsein – Fernsehbilder, Zeitungsschlagzeilen. So wird jeder Muslim in der U-Bahn zum vermeintlichen Attentäter.

In der Ost-Londoner Moschee, Zentrum der größten muslimischen Gemeinde im Königreich, macht man sich darüber Sorgen. Ismails Lehrer, Mohammed, passt genau in das Muster der Vorurteile: Arabisch aussehend, Mitte Zwanzig, mit Kappe auf dem Kopf. Oft, sagt er, werde er misstrauisch beäugt, wenn er in einen Bus oder in die Tube steige. Der mittelgroße, schmächtige Mann rückt sich seine Modebrille zurecht. „Viele Leute sehen mich nur noch unter dem Prädikat ‚Potenzieller Terrorist'".

Dabei, sagt Mohammed, sei er hier aufgewachsen, habe in dieser Moschee den Koran gelernt und damit vor allem: friedlich zu sein. Niemals gehe Gefahr von ihm aus. „Ich bin ein Bürger wie alle anderen auch, arbeite und zahle meine Steuern. Plötzlich werde ich zum potenziellen Mörder." Dabei, sagt er, sei „jeder Besoffene auf der Straße ein größeres Risiko für die Allgemeinheit."

Die Umgebung der Moschee ist von derer einer in Arabien kaum zu unterscheiden. An der Hauptstraße, die von Central London aus Richtung Osten führt, stehen Häuser, an denen der Putz abbröckelt, der Asphalt auf den Gehsteigen ist löchrig. Eine düstere Gegend, und doch nur einige Meilen weg vom unendlichen Glamour auf den Partys der Reichen.

Hier werden Nicht-Muslime zur Minderheit. Fuhren nicht rote Doppeldeckerbusse durch die Straße, gebe es wenige Indizien, sich in London, und nicht in Kairo zu befinden. Die Identifikation mit der muslimischen Gemeinde ist hoch, man muss sich nicht dafür rechtfertigen, wenn man zum Gebet in die Moschee geht. So erklärt sich auch das Interesse der Eltern, ihre Kinder in den freiwilligen Koranunterricht zu schicken: In Kensington oder Chelsea ist das gleichbedeutend mit einem Bruch der Freundschaft mit christlichen Engländern. Hier, im Londoner Osten, ist das anders.

Ob die Gegend auch Nährboden für den Nachwuchs der Terroristen sei? In der East London Mosque wehrt man ab, man wolle damit nichts zu tun haben. Hier werde der eigentliche, der friedliche, Islam gelehrt, Gewalt werde durchwegs abgelehnt. Alle Leute, die hierher kommen, sind friedliche Menschen? „Alle", sagt Mohammed, „alle, die ich kenne."

Warum sich junge Muslime trotzdem immer wieder zur Gewalt entschließen, dafür hat man hier eine einfache Erklärung: „Sie sehen doch", meint Koranlehrer Mohammed, „was passiert – in Afghanistan, im Irak. Sie merken, dass sie, wenngleich hier geboren, keine vollwertigen Briten sind, merken, wie Rassismus in den Köpfen noch immer existiert." Das beginne bei der Arbeitssuche, die mit anderer Hautfarbe deutlich schwerer falle. „Dann müssen sie im Grunde nur noch mit den falschen Leuten in Kontakt kommen, die sie für sich vereinnahmen und sie schließlich abschotten vom Rest der Gesellschaft." Umso wichtiger sei es, betont er, dass die Leute hier in die Moschee zum Beten kämen, und merkten, dass der Islam und Gewalt zwei verschiedene Dinge seien.

Tatsächlich kommen viele. Das Abendgebet Asr beginnt um viertel nach sieben, da hat Ismail gerade Schulschluss. Zusammen mit einigen anderen und Mohammed eilen sie in die Haupthalle, streifen schnell ihre Schuhe ab, und ordnen sich ein in die Reihen der Gläubigen, die bis zum Ausgang sämtlichen Raum in Anspruch nehmen. Ismail sagt: „Natürlich könnte ich auch zu Hause beten, aber hier gefällt es mir besser. Ich mag die Atmosphäre."

Nach fünfmaligen Niederknien, Hinwerfen und wieder Aufstehen, bei denen der Imam jedes Mal "Allahu Akbar (Allah ist groß)", ruft, geht für den 14-jährigen ein langer Tag zu Ende. Bevor er endlich abschalten kann, stehen noch Hausaufgaben an – für seine staatliche Schule. „Der Koranlehrer gibt uns nie welche."

Willkommen bei ONLINETEXTE

Hier schreiben alle rückenWind-Redakteure: Wie sie wollen, frei und unverändert. Texte, die hier stehen, sind online only, erscheinen also nicht in der Print-Ausgabe.